Britisches Flugblatt (1942)
Quelle


NOCH nie hat der Mann, der die Bombenangriffe auf eine [!] Land leitet, eine Botschaft an die Bevölkerung dieses Landes gerichtet. Ich, Luftmarschall Harris, Ober­befehls­haber der britischen Kampf­flugzeuge, die Deutschland angreifen, habe mich entschlossen, diese Botschaft an das deutsche Volk zu richten.
  Wir in England haben zur Genüge erfahren, was Luft­angriffe bedeuten. Zehn Monate hindurch hat uns eure Luftwaffe mit Bomben belegt. Zuerst bei Tage. Als wir das abgestellt hatten, kam sie bei Nacht. Ihr hattet damals eine starke Luftwaffe. Eure Flieger schlugen sich gut. Zwei­undneunzig Nächte hinter­einander haben sie London gebombt; Coventry, Plymouth, Liverpool und andere britische Städte haben sie schwer angegriffen. Der Schaden, den sie anrichteten, war beträchtlich; 43000 britische Männer, Frauen und Kinder sind dabei ums Leben gekommen; viele historische Bauten, die uns lieb und teuer waren, sind zerstört.
  Damals glaubtet ihr, – denn Göring hatte es euch versprochen – das [!] ihr selber vor Bomben sicher seid. Und tatsächlich konnten wir nur mit wenigen Flug­zeugen antworten. Jetzt sind die Rollen vertauscht. Jetzt kommen nur ab und zu ein paar deutsche Maschinen zu uns; und wir bomben Deutschland nach Noten.
  Warum wir das tun? Nicht aus Rachsucht – obwohl wir Warschau, Rotterdam, Belgrad, London, Plymouth, Coventry nicht vergessen. Wir bomben Deutschland, eine Stadt nach der andern, immer schwerer, um euch die Fort­führung des Krieges unmöglich zu machen. Das ist unser Ziel. Wir werden es unerbittlich verfolgen. Stadt für Stadt: Lübeck, Rostock, Köln, Emden, Bremen, Wilhelms­haven, Duisburg, Hamburg, – und die Liste wird immer länger. Lasst euch von den Nazis mit ins Verderben reissen, wenn ihr wollt. Das ist eure Sache.

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IST das Wetter gut, dann kommen wir bei Nacht. Schon jetzt fliegen tausend Bomber eine Stadt wie Köln an und zerstören innerhalb einer Stunde ein Drittel von ihr. Wir wissen das, denn wir haben die Luft­aufnahmen. Ist der Himmel bewölkt, so kommen wir bei Tag und bomben eure Fabriken und Docks; Danzig, so weit entfernt es auch ist, weiss Bescheid. Wir kommen bei Tag und bei Nacht; kein Teil des Reiches ist sicher.
  In Köln, im Ruhrgebiet, in Rostock, Lübeck oder Emden mag man der Ansicht sein, dass wir mit unseren Bombern schon aller­hand geleistet haben. Wir sind anderer Ansicht. Was ihr bisher erlebt habt, wird nicht zu vergleichen sein mit dem was kommt, sobald unsere Produktion von Bomben­flugzeugen erst zu einem Strom anschwillt und die amerikanische sich verdoppelt und vervierfacht.
  Ich möchte ganz offen darüber sprechen, daß wir einzelne militärische Ziele angreifen oder ganze Städte. Selbst­verständlich bomben wir lieber eure Fabriken, Docks und Eisen­bahnen; das trifft Hitlers Kriegs­maschine am schwersten. Aber die Arbeiter, die in diesen Werken beschäftigt sind, wohnen dicht um sie herum. Deshalb fallen unsere Bomben auf eure Wohnhäuser und – auf euch.

Wir bedauern, dass das notwendig ist. Die Arbeiter des Diesel­motoren­werks Humboldt-Deutz in Köln z.B., von denen eine Anzahl in der Nacht des 30. Mai umkam, mussten die Gefahren des totalen Kriegs auf sich nehmen, genau wie die Seeleute unserer Handels­flotte, gegen welche die (mit Motoren von Humboldt-Deutz aus­gerüsteten) U-Boote ihre Torpedos abgefeuert hätten. Waren die Arbeiter der Flugzeug­werke von Coventry, ihre Frauen, ihre Kinder nicht auch “Zivil­bevölkerung”ganz wie die Arbeiter der Rostocker Flugzeug­werke und deren Familien? Aber Hitler hat es so gewollt!

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ES stimmt, dass eure Abwehr unseren Bombern Verluste zufügt. Eure Führer erzählen euch zu eurem Trost, diese Verluste seien so schwer, dass wir unsere Luft­angriffe bald nicht mehr werden fortsetzen können. Wer das glaubt, wird bitter enttäuscht werden. Ich, der die britischen Kampf­flugzeuge befehligt, will euch sagen, wie gross unsere Verluste sind: nicht einmal 5 v. H. der Bomber, die wir über Deutschland schicken, gehen verloren. Eine solche Verlustrate kann kaum den ständigen Zuwachs verzögern, der durch die steigende Produktion unserer eigenen und der amerikanischen Fabriken sichergestellt ist.

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AMERIKA greift erst jetzt in Europa ein. Die ersten Geschwader, Vorläufer einer ganzen Luftflotte, sind aus U.S.A. in England eingetroffen. Ist es euch klar, was es bedeutet, wenn die auch Deutschland angreifen? Allein aus einem einzigen amerikanischen Betrieb, den neuen Ford­werken in Willow Run, Detroit, rollt schon jetzt alle zwei Stunden ein neuer vier­motoriger Bomber heraus, der vier Tonnen Bomben nach jeder deutschen Stadt tragen kann. Und Willow Run ist nur ein Betrieb unter Dutzenden. An diese Anlagen könnt ihr nicht heran. Auch eure U-Boote können die amerikanischen Bomber nicht am Herüber­kommen verhindern; denn die fliegen über den Atlantik.
  Bald werden wir jeden Tag und jede Nacht erscheinen bei Regen, Sturm und Schnee – wir und die Amerikaner. Ich war gerade acht Monate drüben, und so weiss ich genau, was bevor­steht. Wenn ihr uns dazu zwingt, werden wir das Dritte Reich von einem Ende zum andern heim­suchen. Ihr könnt uns nicht hindern, und ihr wisst das.
  Ihr habt keine Chance. Ihr habt uns 1940 nicht schlagen können, als wir waffen­los waren und allein standen. Eure Führer waren dann so verrückt, auch noch Russ­land und Amerika anzugreifen (aber eure Führer sind eben verrückt – das weiss die ganze Welt, ausser Italien). Wie könnt ihr jetzt auf einen Sieg hoffen, da wir, mit Russ­land und Amerika, immer stärker werden, während euch die Kraft mehr und mehr ausgeht? Nein, ihr habt keine Chance.

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VERGESST eines nicht: wie weit eure Armeen auch vor­marschieren, sie können nie bis nach England kommen. Sie konnten schon nicht herkommen, als wir waffen­los waren. Sie können siegen, soviel sie wollen, – den Luftkrieg müsst ihr dann immer noch mit uns und den Amerikanern aus­fechten. Den könnt ihr nie gewinnen – aber wir gewinnen ihn bereits.
  Und nun noch ein letztes Wort:
  Es steht bei euch, mit Krieg und Bomberei Schluss zu machen. Stürzt die Nazis, und ihr habt Frieden! Es ist nicht wahr, dass wir einem [!] Rache­frieden planen. Das ist eine deutsche Propaganda­lüge. Aber wir werden es ganz gewiss jeder deutschen Regierung unmöglich machen, noch einmal einen totalen Krieg anzufangen. Ist das nicht ebenso euer Interesse wie das unsere?

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